Phoenix übertrug am 2. Oktober die Wiederholung einer ungewöhnlichen Gesprächsrunde, mit Angela Merkel als Moderatorin. “Deutschland sagt Danke” hieß die Veranstaltung, die am 1. Oktober in Berlin stattfand, um die “Aufbauleistung der ehemaligen Gastarbeiter” zu würdigen. Einerseits überfällig, andererseits auch problematisch…
Überfällig, weil es in der deutschen Diskurslandschaft positiv auffällt, dass ehemalige GastarbeiterInnen überhaupt gewürdigt werden. Es wird daran erinnert, dass Menschen aus dem Ausland angeworben wurden, aus “deutschem” Interesse heraus, und dass die Situation, in der diese Menschen sich dann befanden, nicht gerade einfach war. Auf die Arbeits- und Unterkunftsbedingungen wies auch Integrationsbeauftragte Maria Böhmer in ihrer Rede hin. Mit dem Blick zurück wird die Geschichte Deutschlands als “Einwanderungsland” erzählt, auch als Geschichte einer langsamen und schwerfälligen Öffnung der deutschen Gesellschaft, als Geschichte von Bereicherung und Annäherung. Einige der ca. 200 geladenen Gast- und VertragsarbeiterInnen der ersten Generation hatten in der Gesprächsrunde mit der Bundeskanzlerin die Möglichkeit, ihre eigene, persönliche Geschichte zu erzählen. Vertreter von Firmen, die GastarbeiterInnen beschäftigten, betonen deren große Bedeutung für die Firmen. All das hat etwas mit Anerkennung zu tun – auch ganz offiziell und nicht nur für Einzelne – und das ließ hierzulande bislang zu wünschen übrig.
Dennoch hinterlassen die Veranstaltung und die Rede Böhmers auch ein ungutes Gefühl und werfen Fragen auf. Ein nicht unbedingt intendierter, aber für die dilemmatische Natur politischer Sprache symptomatischer Effekt (und problematischer Aspekt) ist die dauernde Wiederholung der Grenzziehung zwischen “uns” und “Ihnen”, die einer solchen Veranstaltung innewohnt. Diese Grenze wird immer wieder neu aufgebaut, um sie dann wieder zu nivellieren – aber sie bleibt. Ein Beispiel aus Böhmers Rede:
“Dies ist heute Ihr Tag. Die Bundeskanzlerin hat Sie eingeladen, weil wir Ihnen Dank sagen wollen.
- Sie haben hart gearbeitet und damit zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Wohlstand in Deutschland beigetragen.
- Sie haben sich für ein besseres Miteinander eingesetzt.
- Sie haben Deutschland bereichert.
Dafür herzlichen Dank!Dieser Dank ist nicht allein der Dank der Politik oder der Wirtschaft. Es ist der Dank unseres Landes, unseres gemeinsamen Landes. Heute sagt Deutschland Danke!”
Lassen wir mal die Anthropomorphisierung beiseite – obwohl mit der Vorstellung, “Deutschland” könne “Danke” sagen, ein schönes Beispiel für das von Simon Keller konstatierte epistemische Problem mit der Loyalität zu einem Land vorliegt. Dieses “Deutschland” jedenfalls scheint verschwimmende Grenzen zu haben. Es wurde durch Einflüsse von außen bereichert und bedankt sich dafür. Es gehört “uns”, und mit dem Einschub und dem Wörtchen “gemeinsam” wird ausgedrückt, dass die einstigen Gastarbeiter auch ein Teil von “uns” seien. Trotzdem sind sie es nicht ganz – denn “wir” können “ihnen” Danke sagen. Einige Zeilen später werden die Gewürdigten als “liebe Gäste aus der ersten Generation” bezeichnet. Dass ein Gast nicht zum Haushalt gehört, ist bekannt. Böhmers Formulierung impliziert aber auch, dass es noch mehr Generationen von Gästen gebe – so dass auch Menschen, die in der dritten Generation hier leben, das möglicherweise als “Gäste” tun.
Im Zwiegespräch Angela Merkels mit einer jungen Frau, deren Großeltern als Gastarbeiter in die Bundesrepublik kamen, wurde diese Trennung von “uns” und “ihnen” beispielhaft deutlich. Die Enkel der ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien Teil unserer gemeinsamen Zukunft, so Böhmer in ihrer Rede. Merkel fragte die junge Frau, wie es ihr in Deutschland gefalle, ob es schwierig gewesen sei, als Mädchen Abitur zu machen, und dass sie doch bestimmt Freundinnen habe, bei denen die elterliche Unterstützung für das Abitur nicht so selbstverständlich gewesen sei. In Deutschland gefalle es ihr gut, sagte die junge Frau, sie sei ja in Berlin geboren. Phoenix blendete eine Bildunterschrift ein: “(Name der jungen Frau) aus der Türkei”.
Obwohl betont wird, dass der Dank nicht nur aus Politik und Wirtschaft komme, fällt die wiederholte Betonung des insbesondere wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Nutzens, den die MigrantInnen “Deutschland” gebracht haben, auf. Deutschland ist auch dank ihnen zum Exportweltmeister geworden, sie sorgten dafür, dass bei Daimler-Benz die Bänder reibungslos liefen, und dafür, dass in der BASF-Kantine neben Kartoffeln auch Spaghetti auf den Speiseplan kamen. Die Pressemitteilung der Bundesregierung hat auch Zahlen zu bieten:
“Volkswirtschaftler haben ausgerechnet, dass die zugewanderten Arbeitskräfte Deutschland jährlich um ein Prozent des Bruttoinlandsprodukt entlastet haben. Das sind satte 20 Milliarden Euro pro Jahr!”
Die Versuchung ist immer groß, Menschen, die behaupten, Einwanderung würde “uns” schaden, entgegenzuhalten, dass sie “uns” nütze. Doch das Nutzenargument reduziert Menschen auf ihre Arbeitskraft und stärkt – unabhängig von der Intention der so Argumentierenden – die Vorstellung, dass “Nutzen” ein akzeptables Kriterium sei, um über die Rechte eines Menschen zu entscheiden.
Mit Vorsicht zu genießen ist auch die Betonung der Integrationsleistung der damaligen GastarbeiterInnen unter erschwerten Bedingungen. Es ist einerseits positiv, zu würdigen, dass Menschen sich unter widrigsten Bedingungen einen Platz in einer Gesellschaft/einer Stadt/… erarbeitet, erkämpft, gefunden… haben (auch wenn Daimler-Personalchef Fleig sich freut, “dass wir aus denen echte Stuttgarter gemacht haben, oder Sindelfinger”). Im Rahmen des aktuellen Integrationsimperativs gerät die Würdigung der Integrationsleistung der GastarbeiterInnen der ersten Generation zu einer weiteren Selbstverantwortungsforderung: Integriere Dich, aktiv, erwarte keine Hilfe. Andere haben das unter viel schwereren Bedingungen auch geschafft (mit “eiserner Disziplin”), Du kannst die Umstände nicht als Entschuldigung heranziehen.
Zu guter Letzt wird auch noch Rassismus der Mehrheitsgesellschaft verniedlicht: den Deutschen falle es schwer, auf andere zuzugehen; sie seien in den 1950er Jahren “ungeübt im Umgang mit anderen Kulturen” gewesen und hätten “nicht immer die Sprache des Herzens gesprochen” (Böhmer).
Fazit: ein überfälliger und guter Anfang, aber da kann noch einiges kommen.