von elb, 24.03.2010

Gerade läuft die internationale Woche gegen Rassismus. Die Debatte um die Äußerungen Thilo Sarrazins in der Zeitschrift “Lettre International” zeigt deutlich, dass keine Einigkeit darüber besteht, was “Rassismus” denn nun ist – geschweige denn, was es bedeutet, “gegen Rassismus” zu sein.

Wir erinnern uns: der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin, Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und prominenter SPD-Genosse, äußerte sich im September 2009 in einem Interview mit der Zeitschrift “Lettre International” abfällig über “Menschen [...], die nicht ökonomisch gebraucht werden”. Zu diesen gehörten “Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat” und die “keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel” hätten. Die Mentalität dieser Menschen sei “aggressiv und atavistisch”, sie seien in weiten Teilen “weder integrationswillig noch integrationsfähig” und “produziert[en]” “ständig neue kleine Kopftuchmädchen”. Speziell türkische Menschen “erobern” Deutschland “durch eine höhere Geburtenrate”. Aber auch “verfettete Subventionsempfänger”, “Unterschichtengeburten” und “Nichtleistungsträger” will Sarrazin nicht mehr in Berlin haben. Im Gegensatz dazu sprach er von “vielen fleißigen asiatischen Arbeitern, von Thailand bis China” sowie von der “altdeutsche[n] Arbeitsauffassung” der “Detuschrussen” und attestierte jüdischen Menschen aus Osteuropa einen “um 15% höheren IQ” als der deutschen Bevölkerung. Direkte Folge: eine mediale Debatte, schnelle Solidaritätsbekundungen und Schulterklopfen für Sarrazin (unter anderem von Henryk M. Broder, Ralph Giordano, aber auch der DVU, der PRO-Bewegung und den Republikanern), Anregung eines Parteiausschlussverfahrens aus der SPD, Ärger mit der Bank- derweil Lettre International mit dem Blick über den Tellerrand und kontroversen Interviews wirbt.

Ein erster Antrag auf Parteiausschluss durch Mitglieder seines SPD-Kreisverbandes wird im November 2009 abgelehnt – unter anderem mit Verweis auf das Hamburger Programm der SPD, das eine Integrationsbereitschaft “seitens der Migranten” fordere, und die Tradition der SPD, die “stets Raum für verschiedene Auffassungen gelassen” habe (siehe hier).

Im Dezember 2009 kommt ein vom SPD-Kreisverband Spandau und der SPD-Abteilung Alt-Pankow in Auftrag gegebenes wissenschaftliches Gutachten (Autor: Dr. Gideon Botsch, Moses-Mendelssohn-Institut) zu dem Schluss, dass “die Äußerungen von Dr. Thilo Sarrazin im Interview mit der Zeitschrift ‘Lettre International’ (deutsche Ausgabe, Heft 86)” eindeutig als rassistisch zu bewerten seien. Der Schwarze Blog kommentiert. Botsch beschreibt eingangs, dass es unterschiedliche Rassismusdefinitionen und unterschiedliche Spielarten des Rassismus gibt (bspw. kulturalisierenden Rassismus und “sozialen Rassismus”), und bezieht sich auf Albert Memmi, demzufolge Rassismus in einer “Hervorhebung von Unterschieden, in einer Wertung dieser Unterschiede und schließlich im Gebrauch dieser Wertung im Interesse und zugunsten des Anklägers” bestehe (Memmi, Rassismus, S. 44). Von Rassismus könne entsprechend nur gesprochen werden, wenn “Differenz, Wertung, Verallgemeinerung und Funktion” vorliegen (Botsch, S. 4). Das Gutachten weist den Äußerungen Sarrazins kulturalistischen und sozialen Rassismus sowie andere gruppenbezogene Vorbehalte nach – und weist explizit darauf hin, dass die Identifikation rassistischer Äußerungen nicht gleichzusetzen ist mit dem Vorwurf, jemand sei Rassist (Jay Smooth hat’s immer noch gut formuliert und diese Unterscheidung scheint auch rechtlich relevant zu sein, wie die Kontroverse um Dr. Sabine Schiffer deutlich macht).

Im März 2010 entscheidet die SPD-Landesschiedskommission Berlin, dass Sarrazin Mitglied der SPD bleiben darf. Die Entscheidung (hier als pdf) hält fest: “Rassismus hat in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands keinen Platz.” (im Original fett) Sarrazin wird dennoch nicht ausgeschlossen – weil seine Äußerungen nicht alle Kriterien für Rassismus erfüllen. Weil nicht nur Migrant_innen, sondern auch ein “bestimmter Teil der deutschen Bevölkerung” kritisiert würden, finde kein Rassismus statt – es würden schließlich Gruppen von Migrant_innen mit Gruppen von Deutschen gleichgesetzt. Eine Verallgemeinerung finde nicht statt, weil Sarrazin nicht von “den Migranten” rede, sondern zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen unterscheide. In dem Dokument ist außerdem zu lesen, Sarrazins “Tabubruch” sei in “den Reihen der Menschen mit Migrationshintergrund” auf Verständnis gestoßen – und Sarrazin (der “Antragsgegner”) beklagt die Tabuisierung seiner Kritik u.a. durch “staatlich finanzierte Antidiskriminierungsvereine”, die den Rassismusvorwurf strategisch einsetzten, um Dinge “unter der Decke” zu halten. Zurück zur Entscheidung: wenn sich Sarrazin auch vom “Menschenbild des Hamburger Programms entfernt” hätte, so wiege das Gut der Meinungsfreiheit schwerer: “Die Volkspartei SPD muss solche provokanten Äußerungen aushalten.”  Sarrazin erhalte damit aber “keinen Freifahrtschein für alle künftigen Provokationen” (kursive Hervorhebungen sind im Original fett). Parteischädigendes Verhalten sei in seinen bisherigen Äußerungen noch nicht festzustellen.

Sebastian Heiser kommentiert in der taz: ein Parteiausschluss hätte “nochmal die ganz große Runde gemacht”, der Nicht-Ausschluss sei also als strategisch zu verstehen – und musste dennoch inhaltlich begründet werden, woran die Schiedskommission gescheitert sei. Dies habe verheerende Folgen – darunter in Heisers Worten “ein Persilschein für Rassisten”. Hajo Funke betont in der taz den rassistischen und sozialdarwinistischen Charakter von Sarrazins Äußerungen, die er als “rassistischen Rechtspopulismus” bezeichnet. Die Kommission, die sich auf die Rassismusdefinition von Albert Memmi beruft, habe “den Memmi und den Rassismusdiskurs nicht verstanden”. Die Behauptung, durch die “Differenzierung zwischen Migrantengruppen” (taz) sei das Kriterium, dass sich eine Beschuldigung gegen fast alle Mitglieder einer Gruppe richte, nicht erfüllt, bezeichnet Funke as “geradezu grotesk”. Im Kommentar von Daniel Bax wird die Schiedskommission mit der Aussage paraphrasiert, Sarrazins Aussagen seien nicht biologisch begründet, also nicht “im klassischen Sinne rassistisch”. Bax prophezeit: die SPD wird sich auch in Zukunft mit “dummen Sprüchen” Sarrazins “herumschlagen” müssen – weil die Entscheidung als Bestätigung seiner Positionen wirkt. Wie die taz berichtete, gibt Sarrazin den Vorwurf, nicht für die SPD zu sprechen, nun an die Parteilinke weiter.

Die SPD lehnt also Rassismus ab. Kulturalisierende, ethnisierende und sozialdarwinistische Zuschreibungen, Abwertungen und Ressentiments gelten laut Landesschiedskommission zwar als problematisch, weil sie “viele Menschen verletzt” haben – aber nicht als Spielarten des Rassismus. Dass Intelligenz und ökonomische Nützlichkeit an soziale Herkunft, Nationalität und die Zugehörigkeit zu doch recht großen “Kulturkreisen” geknüpft werden und Sarrazin sich zudem aus dem Fundus antisemitischer Klischees bedient, scheint dabei nicht weiter zu stören. Wenn Sarrazins Äußerungen SPD-Organen nicht als “parteischädigend” gelten, sondern Positionen repräsentieren, die innerhalb der Volkspartei “ausgehalten” werden müssen, nimmt diese zumindest in meinen Augen Schaden. Um eine Formulierung von Sarrazin zu borgen: Ich muss niemanden respektieren, der mehrfach privilegiert ist, die Gleichwertigkeit aller Menschen abstreitet und ständig neue “Tabubrüche” produziert.

Der Beitrag wurde am Mittwoch, den 24. März 2010 von elb veröffentlicht. Die Kommentare zu diesem Eintrag lassen sich durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können den Beitrag kommentieren, oder einen Trackback auf ihrer Seite einrichten. Der Beitrag wurde folgenden Themen zugeordnet: , , , , , , , , , , , , .

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  1. .: Diffusionen.de | Das E-Wort als notwendige Skandalisierung?

    17.06.2010 | 22:53

    [...] Siehe auch: Sarrazin, Rassismusdefinitionen und die SPD [...]

  2. Landschaft & Oekologie

    16.06.2013 | 08:13

    Die NS-Ideologie ist nicht darwinistisch…

    Das Wesen des Nationalsozialismus wird gewöhnlich auf verschiedenen Seiten des politischen Spektrums in sehr Verschiedenem gesehen. Auf der konservativen Seite sieht man es etwa so: Er ist ein Kind der Moderne, des „Massenzeitalters“, …

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