von critiska, 2.09.2010

Zur Debatte um den derzeitigen Vorzeigerassisten Thilo Sarrazin ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Zwei Punkte, die in der Debatte nicht so zentral diskutiert werden, möchte ich hingegen hier kurz in den Mittelpunkt stellen.

Zunächst ist es spannend mitzuerleben wie rassistische Argumentationsmuster sich bilden und entwickeln. Hierzu kann man auf die Ideen von Ian Hacking zurückgreifen, der in seinem Essay „Making up People“ auf sehr interessante Weise zeigt, wie Personengruppen gemacht, also definiert, klassifiziert, quantifiziert, normiert etc. werden. Genau das hat auch Sarrazin auf nahezu perfekte Weise hinbekommen.

Er hat das vollzogen, was Hacking beschreibt: „More generally, we try to biologise, to recognise a biological foundation for the problems that beset a class of people“. Sarrazins Argumentation wirkt wie ein Begehren nach einer biologisch und genetisch einwandfrei verstehbaren Welt, auf deren Grundlage und durch das Wissen ihrer Funktionsweisen man ganz einfach steuern und Probleme lösen kann. Nur wird diese Welt eben nicht durch diesen biologistischen und genetisierten Blick einer adäquaten Analyse vollzogen, sondern sie wird – inklusive der Menschen und ihrer Probleme – erst durch diesen Blick erschaffen. Und so erschafft sich auch der Rassismus von Sarrazin selbst. In dem er die vermeintlichen Probleme erzeugt, definiert, ordnet und schließlich lösen will.

Dass diese Welt nicht so funktioniert, kann jede Person jeden Tag erleben, wenn sie sich den Realitäten stellt und mit dem Blick für Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und Kontingenzen eine andere Welt erschafft.

Daran schließt sich noch ein weiterer Punkt an, der in der Debatte um die Thesen von Sarrazin nicht so im Fokus steht. Gemeint ist die Frage der Entwicklung von Bildung und Wissen in unser heutigen Welt. Bei Sarrazin muss man das Gefühl haben, dass der Zugang zu Bildung und das Verstehen von Welt sich biologisch und sogar genetisch vermittelt. Das heißt, dass das Ideal der Gleichheit der Menschen und der Gleicheit der Chancen hier in tausend Stücke zerfällt.

Dieser Sichtweise, dass sich “Intelligenz” und Bildung genetisch entwickeln und determinieren, kann man eine ganz andere Position entgegenstellen. Sie stammt vom französischen Philosophen Jacques Rancière, der sie in seinem Buch “Der unwissende Lehrmeister” ausgebreitet hat. Ausgehend von seiner engagierten Darstellung der historischen Figur Joseph Jacotot, eines universitäten Lehrbeauftragten in den Niedelanden des 19. Jahrhunderts, macht Rancière daraus ein Plädoyer für ein Lernen und Lehren ohne elitären Habitus. Dazu gehört ebenso das Wissen um die Gleichheit aller Menschen. Ohne biologistische Zwangsbrille und genetisch-deterministisches Weltbild auskommend, zeigt diese Sicht auf die Menschen, dass die Möglichkeiten für Lernen und die Emanzipation durch Bildung erst einmal alle gleich in allen Menschen vorzufinden sind. Wichtig ist nur, diese Möglichkeiten zu fördern – was weder die aktuelle Bildungslandschaft noch die Debatten über Migration und “Unterschicht” tun.

Dazu Rancière: “Man hat keine besonderen pädagogischen Leistungen von einem emanzipierten Gärtner zu erwarten oder überhaupt von einem unwissenden Lehrmeister. Was ein Empanzipierter wesentlich kann, ist, Emanzipierender zu sein: nicht den Schlüssel zum Wissen geben, sondern das Bewusstsein davon, was eine Intelligenz sein kann, wenn sie sich allen anderen gleich und jeden anderen als ihr gleich betrachtet.”

Eine solche Position suchen wir bei Sarrazin und Co. vergeblich. Sie glauben zu wissen, aber letztendlich stehen sie einer intellektuellen und gesellschaftlichen Emanzipation fundamental entgegen.

[Auch erschienen als Editorial unseres Newsletters vom September 2010]

Der Beitrag wurde am Donnerstag, den 2. September 2010 von critiska veröffentlicht. Die Kommentare zu diesem Eintrag lassen sich durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können den Beitrag kommentieren, oder einen Trackback auf ihrer Seite einrichten. Der Beitrag wurde folgenden Themen zugeordnet: , , , , .

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