Die Enttäuschung ist erkennbar groß: “Chaoten halten sich zurück” heißt es heute in der Leipziger Volkszeitung (LVZ). Dabei hatte das Blatt noch am 31. Dezember ahnungsvoll geraunt: “Angst vor Krawallen in Connewitz”. Wegen der “befürchteten Silvesterkrawalle” wurde das Gebiet um das Connewitzer Kreuz mal wieder zum “Sperrgebiet” erklärt. Anders als in den Vorjahren unterließ es die Polizei jedoch, mit Hunderten Beamten aufzumarschieren. Die Einsatzkräfte hielten sich diesmal in Seitenstraßen bereit. Ob es an dieser veränderten Taktik lag oder daran, dass die “gewaltbereite Szene” (LVZ) auch nicht mehr das ist, was sie (in den Augen der Zeitung) mal war — jedenfalls konstatierte die Polizei im Nachhinein eine “weitestgehend friedliche” Silvesternacht. Auch am Kreuz musste sie nicht einschreiten (obwohl angeblich ein Flaschwenwerfer den an einer Ecke postierten Polizeipräsidenten Wawrzynski aufs Korn genommen hatte), selbst eine kurze Spontandemo wurde toleriert.
Gern hätte man als LVZ-Leser gewusst, ob mit dieser Aktion (der Demo, nicht den Flaschenwürfen) eine politische Botschaft verbunden war. Auf LVZ-Online heißt es zumindest (die Pressemitteilung der Polizei wiedergebend), dass der Zug ein Transparent mit der Aufschrift “Nazis raus” mit sich führte. Auf Fotos bei LVZ-Online ist davon zwar nichts zu sehen, statt dessen sieht man da die Losung: “Wut und Trauer überwinden – Zusammen gegen Rassismus kämpfen!” — offensichtlich noch mal anknüpfend an die “Das Schweigen brechen”-Demonstration am 29. Dezember aus Anlass der Ermordung von Kamal K. vor wenigen Wochen. (Diese angemeldete Demo war der LVZ am 30. Dezember nur wenige Zeilen wert, in denen u.a. ohne irgendeine Quellenangabe geraunt wurde, der Umgang des “Initiativkreis Antirassismus” mit der Problematik sei “mittlerweile in der linken Szene umstritten”.)
In der Printausgabe der LVZ vom 3. Januar findet sich jedoch gar kein Hinweis auf diesen Hintergrund. Statt dessen wird da lediglich von einem “Marschblock mit etwa 300 teilweise vermummten Antifas” geschrieben, der über das Kreuz gezogen sei. Die militaristische Sprache ist kein Einzelfall: Der Kiez verfüge über eine “erstaunliche Feuerkraft”, attestiert der Autor angesichts der hier zum Jahreswechsel gezündeten Feuerwerkskörper. Der “Anteil von Krawalltouristen” sei nach Ansicht von “Szenekennern” diesmal sehr niedrig gewesen, “Szene-Strategen” hätten ihrer “erlebnisorientierten Klientel” anscheinend “bewusst Zurückhaltung auferlegt”. Ganz in den Bereich der Stadt-Guerilla-Taktik driftet Polizeireporter Frank Döring schließlich in seinem Kommentar ab: Die “gewaltbereiten Chaoten” seien noch nicht “Matt gesetzt”. Diese würden – wie eine Schneeballschlacht im November gezeigt habe – “nur auf eine Blöße der Ordnungshüter lauern, um zuzuschlagen.” Es sei nur eine “Pattsituation” entstanden, der “harte Kern der Autonomen” nicht verschwunden. Deshalb solle die Polizei den “Treffpunkt der gewaltbereiten Szene” besser weiterhin gut behüten.
Tja, wenn es da nicht einen “harten Kern” gebe, der sich dieses Mal leider fieserweise zurückgehalten hat bzw. von den ominösen “Szene-Strategen” dazu angehalten wurde, dann wüsste die LVZ wahrscheinlich gar nicht, was sie Jahreswechsel um Jahreswechsel vom Connewitzer Kreuz berichten sollte. Und der Polizeireporter müsste darauf verzichten, den wagemutigen Frontberichterstatter herauszukehren.
Auch am zweiten Einsatzschwerpunkt der Polizei in Großzschocher – dort hielt sich offenkundig kein LVZ-Reporter auf – blieb ruhig. In diesem Stadteil hätten im Vorjahr “Chaoten” eine Sparkasse verwüstet. Mit der Bezeichnung “Chaoten” ist die LVZ wirklich sehr freigiebig. Immerhin werden bei Berichten aus dem Frontgebiet Connewitz hin und wieder auch die Bezeichnungen “Antifas” und “Autonome” eingestreut. Dass es sich bei den “Chaoten”, die zum Jahreswechsel 2009/2010 ungestört durch Polizeihundertschaften (die waren ja alle am Kreuz) eine Sparkassenfiliale demolierten und eine Straßenbahn angriffen, um bekannte Jung-Nazis handelte, hält die Zeitung aber konsequent nicht für erwähneswert. Vielleicht weiß sie es auch einfach nicht besser, da die ihre Recherchen auf die “Szene” in Connewitz konzentriert. Dabei kursiert(e) bei Youtube sogar ein Video, dass die Kameraden bei ihrer Randale zeigt.
Und auch in diesem Jahr wollten die Leipziger Neonazis offenbar unbedingt beweisen, dass mit ihnen noch zu rechnen ist. Laut Indymedia zogen am Neujahrsabend einige von ihnen durch den Leipziger Westen. Laut einer Nazi-Seite forderten die angeblich hundert Demonstranten dabei mal wieder ihr “Recht auf Zukunft ein”. Die Polizei hat’s offenbar nicht mitgekriegt, und daher wird man wohl auch in der LVZ nichts darüber lesen können.
[...] Kontrapunkte finden sich hier: Frontberichterstattung vom Kreuz (Diffusionen-Blog, 3.1.2011) Viel Lärm um nichts: Leipziger begrüßen das neue Jahr so friedlich [...]