von critiska, 8.11.2012

[Zuerst veröffentlicht als Editorial unseres Newsletters von Nov. 2012]

Liebe Leute, liebe wettergeprägte Menschen,

Es ist Herbst, es ist kälter geworden. Und es gab sogar schon Schnee. Ein seltames Wetter nach einem Oktober, der sich wie ein Mai oder ein August angefühlt hat. Und wenn Mensch jetzt so denkt, einfach schön Decke raus, Heizung angedreht (oder Kohleofen angeheizt), Tee und Gebäck und herrlich Rückzug ins Private, dann folgt irgendwas das: Dann kommen sie wieder aus ihren Löchern (waren sie je verschwunden …?), diese Leute, die einen nerven. Mit irgendwelchen schönen und einfachen Argumenten. Leute, die es besser wissen, die meinen, uns mit ihren tollen Geschichten und Theorien nerven zu können. Obwohl wir doch eigentlich nur ein bisher abhängen wollen in Betten, auf Couches und sonstwo. Nein, das fällt dann doch wiederum schwer.

Z.B. ging es vor einigen Wochen darum, ob es ein Problem mit „Übergewichtigkeit“ im Kindesalter in der Gesellschaft gibt. Grund war eine Anfrage der Linksfraktion und die Antwort der Bundesregierung darauf. Anlass erst mal harmlos, Antwort und Diskussion darüber nicht unbedingt. Dass das Thema nicht so leicht zu verhandeln ist, zeigt ein sehr differenziert argumentierender Artikel im Freitag.

Ich will es mal jenseits des Artikels etwas polemisch auf den Punkt bringen – und eine Imagination beschreiben, die zu einem Klassenkampf wird: Die Diskussion von „Dickheit“ bzw. „Dicksein“ ist ein schönes Bild zur Problematisierung der bösen „Unterschicht“, der „dummen Menschen“ in dieser Gesellschaft, die sich nicht selbst regieren können und wollen. Andere sagen: Sie übernehmen keine Verantwortung für ihr Tun. Sie nehmen nicht ab. Im Gegenteil: Sie essen, ja sie fressen fast und das ohne Maß und Mitte. Und dann kommen die Wisenschaftler_innen, die schlauen Journalist_innen und natürlich Leute aus Politik, Verwaltung und anderen Regierungsstellen: Und los geht es mit dem Regierbarmachen der subalternen Klassen. Weil das so schön einfach ist; es keine Zweifel und Nicht-Kausalitäten zulässt. Und, nicht zuletzt, diese Problematisierung überhaupt nicht die Verantwortung in die Gesellschaft verweist, sondern: Auf das Individuum. Don’t blame the System, blame the Subject! Nein, so geht das nicht, auch im Herbst nicht, mit zu viel Wärme im Kopf und zu viel Niederschlag vor der Tür. Blame the System – Not the Subject!

Deshalb können wir nur empfehlen, mal wieder eine etwas ältere Lektüre aus unseren zahlreichen Vereins-Publikationen hervorzukramen – oder neu zu entdecken: Das Buch „Von Neuer Unterschicht und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten.“ Darin verhandelt u. a. Eske Wollrad in ihrem Aufsatz „White trash – das rassifizierte „Prekariat“ im postkolonialen Deutschland“ die diskursive Herstellung des „White trash“ („Weißer Abfall“) auch in der deutschen Gesellschaft: „[A]nders als das normative Whiteness, das seine Macht gerade aus der Unsichtbarkeit und aus der Unbenanntheit bezieht, ist White trash die einzige Gruppe der Weißen, die im dominanten Diskurs als Weiß benannt wird.“ Laut Wollrad tritt dieses US-amerikanische Label mittlerweile auch in der bundesdeutschen Debatte über das „abgehängte Prekariat“ auf. Hieran zeigt sie, wie gegenwärtige Diskurse Prozesse der Rassifizierung aus kolonialer Wissensproduktion revitalisieren. Auch durch eine rassistische Ausschließungslogik wird der „White trash“ als Identität naturalisiert und mit moralisch-ethischen Defiziten verkoppelt.

Und Friederike Habermann fragt provokant: „Ist Armut ansteckend? Von der Biologisierung der neuen Unterschicht und von Angst als liberaler Regierungsform.“ Müssen wir uns also fürchten? Wohl eher vor den Leuten, die das behaupten. Ist Dummheit oder klassenfraktionelle Ignoranz eigentlich angsteckend? Auch empfehlenswert in diesem Zusammenhang ist der Artikel von Hermann Kocyba „Die neue Unterschicht: Von der Ausbeutung zur Ausgrenzung und zurück“. Das Buch ist aus diesen und anderen Gründen also leider immer noch hochaktuell. So schreibt der von uns – in der Einleitung – schon damals kritisierte Autor Walter Wüllenweber in seinem im Herbst diesen Jahres publizierten Buches „Die Asozialen“ [sic!] sich mal wieder die Mittelschicht gut und neben der sog. „Unterschicht“ auch noch die „Oberschicht“ ins diskursive aus.

Damals schrieben wir: „Die »neue Unterschicht« ist disziplinlos, arbeitsscheu, dumm, fettleibig, fernsehsüchtig – kurz: »Unterschichtler« sind asozial. Solche Zuschreibungen beherrschen die aktuelle Debatte über die »Unterschicht« und das »Prekariat« in seiner »abgehängten« Form. Doch wer wird hier eigentlich beschrieben und was für ein Bild von Gesellschaft wird dabei produziert?“ Der kritischen Auseinandersetzung mit Mainstream-Diskursen über »die da unten« nahmen wir uns und die beteiligten Autor_innen damals intensiv an. Mir scheint, das war und ist weiterhin wichtig. Den Wüllenwebers und Co’s muss eine Wissenschaft gegen den Strich der geistigen Verdummung und sozialen Verarmung – denn genau das können wir Wüllenweber sicherlich unterstellen – entgegengestellt werden. Diese seltsamen Büttel der Systemaffirmation ziehen die falschen Konfliktlinien durch die Gesellschaft. Sie fördern den falschen Klassenkampf und funktionieren als Charaktermasken und totale Intellektuelle ihrer sie repräsentierenden Klassenfraktionen. Dem können wir nur eine vielstimmige Kritik ihres Regierungsdenkens, ihrer problematischen Wissens-Rationalitäten entgegenstellen – so gut es halt irgendwie geht! Und das ist heute genauso notwendig wie vor ein paar Jahren! Und es ist egal, welche Jahreszeit wir gerade um um herum wahrnehmen!

Wir wünschen natürlich trotzdem – oder erst Recht – einen schönen, angenehmen Herbst, mit Tee und anderen Heißgetränken, mit Kuscheln und Bett und Decken, mit viel Wärme und guten, engagierten Gesprächen. Und: mit der richtigen Lektüre und den wichtigen Aktivitäten gegen die Kälte und die Herrschafts- und Machtverhältnisse dieser Gesellschaft.

Der Beitrag wurde am Donnerstag, den 8. November 2012 von critiska veröffentlicht. Die Kommentare zu diesem Eintrag lassen sich durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können den Beitrag kommentieren, oder einen Trackback auf ihrer Seite einrichten.

.: Kommentare

Nutzungsbedingungen

Bisher gibt es keine Kommentare zu diesem Artikel.

Kommentar verfassen:

Name (erforderlich)

Email (erforderlich)

Webseite