Erinnerungspolitik, Erinnerungskultur, Erinnerungsarbeit, Erinnerungsorte, usw. usf. “Erinnerung” ist einer der zentralen Topi unserer gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Und inzwischen ist das mit der Erinnerung nicht mehr ganz so einfach. Dies macht sich fest an der inzwischen aufkommenden Kritik der Begriff und Tätigkeiten wie “Vergangenheitsbewältigung” – und sogar “Erinnerung” selber ist auf das Tableau der Infragestellung gestellt.
Der Deutschlandfunk setzt sich dankenswerterweise mit diesem Thema in einer vierteiligen Reihe sehr auseinander, die hießt “Grenzen der kollektiven Erinnerung” (im Rahmen von “Essay und Diskurs”). Dort wird formuliert:
“Obwohl unsere Erinnerungskultur als relativ intakt gilt, tauchen häufiger grundsätzlichere Fragen auf, wie weit die gewählten Formen des Erinnerns tragen. In unserer vierteiligen Serie “Grenzen der kollektiven Erinnerung” gehen wir diesen Fragen nach. Den Auftakt macht die Frage nach den Möglichkeiten des künftigen Holocaust-Gedenkens, wenn Überlebenden und Zeitzeugen aussterben.”
Das Thema tangiert logischerweise nicht nur die Auseinandersetzung mit der Shoah, die natürlich zentral für eine deutsche Gesellschaftsgeschichte war und ist – und bleiben wird. Aber sie berührt auch ganz zentral und viel allgemeiner gedacht unsere erinnerungspolitische Arbeit als Ganzes zwischen den Polen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Denn unser politisches Handeln und Denken im hier und jetzt berührt ja und speist sich aus den “Echoes der Erinnerung” (in Anlehnung an ein Buch von Richard Powers). Oder eben nicht, wenn wir Geschichte, soziale Kämpfe, Geschichten und Erfahrungen eben nicht kennen – weil wir sie vergessen haben, sie nie kennengelernt haben usw. Das ist meiner Meinung nach keineswegs eine banale Aufrufung von Allgemeinplätzchen, die nicht satt machen. Sondern diese Aufrufung führt uns direkt in unsere aktuellen Arbeiten an der Gesellschaft – als Gesellschaftskritik, als politisches Handeln, als engagierte Wissenschaft zwischen alternativer Wissensproduktion und politischem Handeln. So heißt es in einem unserer Flyer: “An invitation to develop and engage in a form of social Science, informed by active participation in political Action, producing, using and living different forms of critical Theory“.
Denn auch Wissenschaft hat Gedächtnisse und Vergessen, hat Erinnerungen und Brüche, hat Ordnungen des Wissens und Unordnungen der “Unerbittlichkeit der Historizität” (Ulrich Brieler) hervorgebracht und herausgefordert. Und darin hat sich meiner Überzeugung nach ein Verein wie EnWi zu positionieren: Zu welchen theoriepolitischen Positionen bekennen wir uns? Welcher Wissenstradition sind wir zugehörig? Welche Ordnung der Dinge ist unserer Brille der Kritik zugänglich, welche wird radikal kritisiert? Wo sind unsere erinnerungspolitischen diskursiven Ereignisse, derer wir gedenken? Mit denen wir aktuell arbeiten, die zukünftig wichtig sein werden? Das kann hier gar nicht beantwortet werden. Doch als Einstieg in die Auseinandersetzung dient es vielleicht.
Doch noch einmal zurück zu den Arbeiten an der Erinnerung und ihrer Kritik in der Reihe im DLF, die mich ja das Thema angehen ließ:
“Es geht dabei um eine Kritik am Pathos des Erinnerns und einen adäquaten Umgang mit Scham. Gibt es überhaupt eine Sprache für das Grauen? Darum geht es in unserer vierteiligen Serie “Grenzen der kollektiven Erinnerung”. Heute unterhält sich Hans-Jürgen Heinrichs mit dem Sozialforscher Jan Philipp Reemstma “über die Unangemessenheit des Umgangs mit Katastrophen.”
Was hat Gedenkkultur wirklich mit Erinnerung zu tun? Was passiert, wenn Mahnmale errichtet werden? Welche Geschichte wird damit erzählt, vermittelt, verdrängt, erzeugt?
Bei EnWi wiederum gibt es seit Herbst letzten Jahres eine Projektgruppe, die sich mit diesem Thema intensiv an einem Beispiel auseinandersetzt: Und zwar dreht es sich um das Themenfeld der Jubiläen “Völkerschlacht, Völkerschlachtdenkmal und aktuelles ‘Erinnern’” an dieses Doppeljubiläum. Dazu gibt es das Projekt “1813_1913_2013: ERINNERUNG, KUNST, KONTROVERSEN“. Die Stadt Leipzig entwickelt und plant dazu einen großen Aufschlag.
In diesem Projekt sollen genau solche Fragen bearbeitet werden. Und dieses Projekt bei EnWi kann sich der Anziehung dieser erinnerungspolitischen “Schlachten” auch nicht verweigern, denke ich. Wir sind vom Denkmal, seiner neuen Erzählweisen, seiner Vermarktung und der politschen Bearbeitung der Geschichte abgeschreckt und fasziniert zugleich. Warum auch nicht? Und die Fragen, die wir aufwerfen, handeln von dieser Ambivalenz:
“Doch was soll das historische Ereignis mit unserer heutigen Gesellschaft zu tun haben und welche Geschichte will und kann uns das daran erinnernde Denkmal heute erzählen? Und nicht zuletzt: Welchen erinnerungskulturellen und erinnerungspolitischen Prozessen und Aktualisierungen sind wir ausgesetzt und wie positionieren wir uns zu diesen?”
Auch die Bundeskulturstiftung entwickelte letztes Jahr dazu eine Plattform in Form einer Konferenz, die sich mit “Kulturen des Bruchs” auseinandersetzte. Die Vorträge sind inzwischen sogar zum nachhören zugänglich gemacht worden.
Die Koferenz war von der Form – nämlich meinem Wunsch nach einem demokratischen, gleichberechtigen Austausch entsprechend – ziemlich bescheiden organsiert war. Aber vom Inhalt her war es doch eine sinnvolle Zuspitzung. Heißt es dort doch:
“Keine andere Zeit rechnet so mit den Beständen wie unsere Gegenwart. Unsere Speicher sind randvoll mit den Errungenschaften vergangener Zeiten. Gerade die zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer standen im Zeichen forcierter historischer Selbstvergewisserung. Die Erinnerungskultur wurde zur geheimen Räson der sich formierenden Berliner Republik und das “Gedächtnis” stieg zur Leitvokabel auf.
Wie fern liegt uns heute die einstmals avantgardistische Geste, die gerade im Abbruch, der Zäsur den Boden für Innovation sah. Nur der Blick zurück scheint noch die Sicherheiten zu gewähren, die der Sturm auf uns einstürzender, bisher undenkbarer Ereignisse zu kassieren droht – von 9 /11 bis Fukushima. In der Welt, die politisch, ökonomisch und ökologisch aus den Fugen zu geraten scheint, wird der Griff in die Register allein aber nicht mehr zur Orientierung reichen. Gefragt sind heute Kulturen des Bruchs. Wie lassen sie sich denken – nur als Verlust oder auch als Freiheit?
So brisant diese Jahre sind, so wenig haben wir bisher ein Gefühl für die Gravität unseres eigenen Zeitalters gewonnen, das Neue auf den Begriff gebracht. Die Thesen stolpern den Ereignissen hinterher. Im allgemeinen Retrogeist der Stunde werden unsere Erwartungen von den alten Erfahrungen geleitet. Anstatt Agenten der Zukunft sind wir Verwalter der Vergangenheit geworden. Sie scheint in unübersichtlicher Zeit die bad bank zu sein, bei der wir unsere Risiken und Unfähigkeit zur Entscheidung auslagern. Auf dem Programm steht nicht weniger als ein grundsätzliches Gespräch zur intellektuellen und im weiteren Sinne kulturellen Lage. Können wir im freien Feld eines neuen Jahrhunderts brechen mit überkommenen Positionen, Begriffen und Lektüren? Oder stellt die Vergangenheit ein unhintergehbares Archiv an Erfahrungen bereit für unsere Entscheidungen?
Mit der Tagung Kulturen des Bruchs versammelte die Kulturstiftung des Bundes herausragende Köpfe aus Wissenschaft, Kunst und Politik, die sich mit den Gründen und Energien unserer Memoria-Leidenschaft auseinandersetzten und nach Alternativen suchten. Eine fundamentale Aussprache über Nutzen und Nachteil des Vergessens für unser Leben.”
Was ist also meine Erinnerung? Balast? Ressource, Wissensspeicher? Erfahrungsschatz? Laster der Vergangenheit? Geronnenes Glück für eine bessere Zukunft? Unerträgliche Tränen und Trauer um die Plätze, Orte und Ereignisse, die nicht sein sollen, die nicht echt sein wollen?
Welche Wege daraus für vergemeinschaftlichte Handlungen folgen, kann ich hier nicht beantworten, weder für mich, noch für andere. Aber dass wir daran arbeiten müssen, ja müssen, an diesen Fragen, Themen, Antworten, um überhaupt handlungsfähig zu sein – an dieses politische Rationalität kritischer Theorie_Praxis-Bildung glaube ich.
Kurzum: Ich muss mich erinnern … und dabei vergessen zugleich …
to be continued …
Wow, was für ein Rundumschlag! Trotz (oder wegen?) der vielen interessanten Verweise ist mir aber noch nicht so ganz klar, wozu sich das EnWi-”Wir” nun eigentlich positionieren, was erinnert und mit was gebrochen werden soll.
Trotzdem möchte ich den Ball aufnehmen und auf einen Artikel von Wolfgang Benz im Tagesspiegel von gestern (“Ums Gedenken streiten”) zur Auseinandersetzung mit der Initiative für einen europäischen Gedenktag für die Opfer “totalitärer und autoritärer Regime” hinweisen. Unter dem Totalitarismus-Label sollen damit jeweils am 23. August der “Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus” gedacht werden – quasi in einem Aufguss. Das Europäische Parlament hat sich dieser Forderung bereits 2009 angeschlossen. Benz kritisiert das als “Geschichtsklitterung”. Leider lässt er einen recht prominenten Unterstützer dieses Vorhabens unerwähnt: “unseren” Präsidenten Gauck, immerhin Erstunterzeichner der vorangehenden “Prager Erklärung” von 2008.
Warum eigentlich der 23. August? Klar, Hitler-Stalin-Pakt 1939. Aber an einem 23. August begann 1791 auf der Insel Hispaniola bzw. Santa Domingo/Sainte Domingue auch der Aufstand der Sklaven gegen ihre französischen “Herren”, der 1793 zunächst zur (vorläufigen) Abschaffung der Sklaverei und 1804 schließlich zur Unabhängigkeit unter dem Namen Haiti führte (siehe zur Bedeutung dieses Vorgangs und zum mutmaßlichen Einfluss auf einen deutschen Philosophen auch: “Hegel und Haiti” von Susan Buck-Morss, hier als Hörbuch). Deshalb hat die Unesco den 23. August zum “Internationalen Tag zur Erinnerung an den Sklavenhandel und seine Abschaffung” deklariert.
Aber da (wir) ja letzlich alle Opfer sind, kann man den Tag sicher problemlos zum gemeinsamen Gedenktag für die Opfer von Sklaverei, Stalinismus und Nationalsozialismus machen, zum SSNS-Tag quasi …